14.12.2024 Heute bin ich sichtbar
Bisschen traurig wird es hier heute. Besser ihr lest an einem anderen Tag weiter, wenn ihr heute selber traurig seid.
Erinnerungen. Der Advent ist für mich die Zeit der Erinnerungen. Nicht alle sind besonders angenehm für mich. Stattdessen schaffe ich neue Erinnerungen für mich und für meine Kinder. Erinnerungen ohne Schmerzen.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind bis zum 23.12. warten musste, bis der Weihnachtsbaum geholt wurde. Meistens kam er aus dem Garten. Dort wurde ein großer Baum gekürzt und die Spitze als unser Christbaum gekürt. Es muss jedoch auch Jahre gegeben haben, in denen wir einen Baum mit Wurzeln hatten, denn solche Exemplare wuchsen ab dem Frühling dann im Garten weiter. Am Heiligabend Vormittag wurde der Baum aufgestellt und geschmückt. Vermutlich rotierte meine Mutter zwischen Baum, dem Braten in der Küche, Wohnzimmer vorbereiten, Geschenke vorbereiten und vielem anderen. Mein Vater kommt in meiner Heiligabend-Erinnerung nur als derjenige vor, der den Baum hineinträgt und das Auto fährt. Mein Geschwister und ich verbrachten die Zeit ab nach dem Mittagessen im Kinderzimmer und hörten im Radio das Kinderprogramm, bis wir uns für den Kirchgang zum Familiengottesdienst mit Krippenspiel fertig machen mussten. Selten gingen wir Heiligabend in unsere eigene Kirche, in einem 20 Auto-Minuten entfernten Ort war es „besser“. Ich weiß gar nicht warum. Oder ich weiß es doch, denn mein Vater ging nicht in die Kirche, er hatte in seiner Kindheit zu oft hingehen müssen, sagte er als Erklärung. Vielleicht fuhren wir in den anderen Ort in die Kirche, weil ihn dort niemand kannte. In meiner Erinnerung bin ich in eine Masse Menschen eingequetscht und schaue stehend von hinten zu. Meistens sehe ich wenig und mir ist kalt. Im Auto ist es auch kalt, denn die Heizung geht wegen der kurzen Strecke fast gar nicht an. Wieder zu Hause stehen wir frierend und aufgeregt im Flur, bis das Glöckchen läutet. Dann dürfen mein Geschwister und ich ins Wohnzimmer, es wird gesungen, die Krippe angeschaut, die Kinder sagen ein Gedicht auf oder spielen Flöte.
In einem Jahr tropften die echten Baumkerzen auf alle Geschenke drauf mit rotem Wachs. Alles leuchtet und überall brennen Kerzen. Dann packen alle ihre Geschenke aus und freuen sich, es ist alles voller Geschenkpapier. Tatsächlich gab es im Schrank ein Fach, in dem das wieder aufgebügelte Geschenkpapier immer sorgfältig aufbewahrt wurde bis zum nächsten Jahr. (Das sind Szenen, über die in heutigen Weihnachtskomödien gelacht wird. Mir sind sie in echt begegnet.) Tatsächlich freuen sich nicht alle, mein Geschwister ist oft enttäuscht und zerfrisst sich hinterher tagelang vor Selbstmitleid, weil ein bestimmtes Teil nicht unter den Geschenken war. Mein Vater bekam stets sein Rasierwasser, Tabak und Pfeifenreiniger von uns Kindern. Ob er sich gefreut hat? Meine Mutter bekam etwas für die Küche und den Haushalt, von den Kindern etwas selbst gemachtes.
Nach der Bescherung gibt es das Festessen. Schon längst war mir das ganze festgelegte Programm zu viel. Wenn etwas nicht funktionierte, waren die Eltern enttäuscht. Wenn die Gegenleistung, die Freude, nicht groß genug war auch. Das machte mir seelische Schmerzen, wenn ich nicht genügte.
Am schönsten war für mich der Morgen nach dem Heiligabend, wenn alle noch schliefen und ich in Ruhe vor dem stillen Baum spielen konnte.
Ab Mittag begann am 1. Feiertag der Monsterstress für mich. Entweder besuchten wir an einem Nachmittag die ganze Verwandtschaft, fuhren von einer Familienfeier zur nächsten, wobei jeweils der eine Familienteil die Zeit aufrechnete, die wir „zu lange“ bei der Verwandtschaft der Gegenseite geblieben wären. Man hätte ja so lange auf uns warten müssen. Unterwegs im Auto stritten sich die Eltern, wie schlecht die jeweils andere Seite sie behandelt hatte. Oder wir fuhren am ersten Feiertag zur einen, am 2. Feiertag zur anderen Verwandtschaft. Ich erinnere mich, dass bei Verwandten im Bad einmal ein Schild aufgehängt wurde, dass die Toilette im Sitzen zu benutzen sei und das meinem Vater erklärte wurde. Ich erinnere meinen Vater, der gelangweilt und genervt im Wohnzimmer mit dem Onkel und einigen Kindern einen Film guckte, nur um mit niemandem Reden zu müssen. Ich musste vorsingen, Gedichte aufsagen, musizieren, den Omas erklären wie brav und gut ich in der Schule gewesen bin. Eine einzige Qual für mich. Die Cousinen und das Geschwister mussten übrigens gleichermaßen mitmachen, ach ja und mich über alles freuen. Während der Rückfahrt im Auto streiten die Eltern vorne, ich sitze hinten und weine. Jedes Mal.
Gut ist, dass ich das nie wieder machen werde: Pflichtbesuche, Pflichtabläufe, Pflichttraditionen, die sich nie ändern dürfen, weil was sollen dann die Leute denken. Die denken gar nichts! Die sehen das nämlich nicht!
Mich hat niemand gesehen. Ich war ein Rädchen in der Weihnachtsablaufmaschine.
Als ich älter wurde, wurde es etwas besser. Nein nicht die Feiertagsnachmittags-Besuche und das vermaledeite Glöckchenritual gab es immer noch. Manchmal kam meine eine Oma Heiligabend zu Besuch, mein Vater holte sie mittags und brachte sie abends wieder nach Hause. Da änderte sich dann der Ablauf zu Hause. Als wir zu groß für den Kindergottesdienst wurden, besuchten wir die Christmette vor Ort am späten Abend. Da hatte ich immer einen Sitzplatz und eine Gänsehaut, weil ich es so schön fand. Ich erinnere ein Weihnachten, als mein Geschwister Geschenke von der Tankstelle mitbrachte: einen Straßenatlas, eine Warnweste u. ä.. Alles frisch gekauft und unverpackt, als wäre es ihm gerade erst in den Sinn gekommen, dass Geschenke eine Riesensache bei uns waren. Mit großer Geste überreichte er uns die Sachen. Ich glaube, er hatte noch nie etwas selbst ausgesuchtes und wertschätzendes an einen von uns verschenkt. (Abgesehen von in der Schule gebastelten Dingen, als er jünger war.) Freude heucheln, konnten wir alle gut.
Bis heute bin ich sehr schlecht im Geschenke machen. Mein Magen verknotet sich immer beim Überlegen und dann fällt mir natürlich nichts ein. Kein Wunder eigentlich.
Das Komische daran ist, dass ich quasi von Beruf Geschenkeaussucherin für andere und Bestellerin bin. Und dass ich das richtig gerne mache und gut darin bin. Solange es um ein Buch oder Spiel geht, muss ich dazu sagen.
Ich mag Menschen, die sich einfach nichts schenken, die sind nämlich deutlich stressbefreit.
Ich mag, dass die Kids und ich einen Baum ausgesucht und geschmückt haben, an dem Tag an dem wir uns dafür Zeit genommen haben. Ich mag, dass er beleuchtet wird, wann immer jemand Lust dazu hat.
Ich mag, dass die Kids mittlerweile die Lichterketten selber aufhängen können, ich mag, dass ich Plätzchen backen kann, wann ich will und welche Sorte ich will. Am liebsten probiere ich neue Rezepte aus.
Ich mag, dass ich keine Weihnachtskarten schreibe, wenn ich keine Lust habe.
Ich mag, dass ich keine Fotos von glücklichen Weihnachtsaktivitäten verschicken muss, wenn ich krank oder zu müde bin oder einfach nur den Moment genießen möchte, ohne das nächste Foto im Kopf zu haben.
Ich mag nicht die Hektik und das Gedrängel auf Arbeit, keineswegs. Ich freue mich auf die Ruhe an den Feiertagen. Wenn die Welt draußen still wird und ich nicht irgendwo hinfahren muss, um einem „das gehört sich aber so“ genüge zu tun.
Ich mag, dass ich frei von Kirche bin.
Heute bin ich sichtbar. Heute bin ich erwachsen und alt. Heute verantworte und sehe ich die Seelen meiner Kinder und meine eigene. Durch das Aufschreiben schaue ich von außen auf meine und darf das Vergangene abschütteln. Den Schmerz dort lassen.
Heute ist der 14. Dezember. Vor 4 Jahren ist meine Freundin gestorben. Ich vermisse sie sehr. Dieser Schmerz ist ein Teil meines Lebens.